„Mein kleiner Junge, vor einem Jahr war ich unglaublich schwanger mit dir. Ich bin trotz Symphysenlockerung und schrecklichen Schmerzen stundenlang Treppen gestiegen, in der Hoffnung, vor dem geplanten Kaiserschnitt doch noch Wehen zu bekommen. So, dass du doch noch eine Chance bekommst, deinen Geburtszeitpunkt selber zu bestimmen.
Es schien mir einfach nicht fair, dass du wegen dem Geburtstrauma, das ich durch deine Schwester erlitten habe, einfach so aus meinem Bauch herausgerissen wirst. Und tatsächlich: heute vor einem Jahr haben die Wehen zu später Stunde eingesetzt. Zwar bist du trotzdem nach einem Kaiserschnitt auf die Welt gekommen. Aber immerhin: du durftest Wehen erleben und hast auch gleich wunderbar geatmet und gestillt.
Und morgen, ja morgen wirst du tatsächlich schon ein Jahr alt. Ich schaue mir wehmütig deine Neugeborenenbilder an und bin mir sicher, dass du nie so klein warst. Aber wirklich nie. Ich weiss nicht genau, was mit dem letzten Jahr geschehen ist. Ich vermute, dass das Zeitmonster vorbeigekommen ist und es aufgefressen hat. Eben erst warst du doch noch so klein un hilfebedürftig. Musstest alles lernen: atmen, schlafen, verdauen, trinken, essen.
Und heute: da klatschst du voller Inbrunst den Rythmus von „Let it go“ mit (ja, man merkt, dass du eine grosse Schwester hast), läufst todesmutig los, um einige Schritte später wieder über die Gummimatten oder den Teppich zu stolpern, kletterst auf das Sofa und versuchst das Gleiche mit der Lehne zu tun (sehr zum Schrecken deiner Eltern), machst deine erste Wortkreationen (Ffffffff für Fisch, Mama, Papa) und beschwerst dich lautstark, wenn deine Mama ein M&M naschen will und dir einfach keines abgibt.
Es war kein einfaches Jahr. Anfänglich machten wir uns wahnsinnige Sorgen wegen deiner Aplasia Cutis. Ein angeborener Hautdefekt, der Hinweis auf verschiedene Behinderungen und Syndrome sein kann. Im Alter von 2 Monaten folgte dann zum Glück die Entwarnung. Deine haarlose Stelle am Hinterkopf ist ein rein kosmetisches Problem.
Und dann, ja dann gab es da noch deine Schwester. Deine Ankunft, ja deine pure Existenz, war eine grosse Herausforderung für sie. Und ist es immer noch. Sie stellte das Tripptrapp an dein Babybett um dich zu beissen. Und heute macht sie sich einen Spass darauf, dich in deinen Lauflernversuchen zu sabotieren und schmeisst dich regelmässig dabei um. Natürlich wollte sie dich auch schon diverse Male ins Spital zurückbringen. Und trotzdem liebt ihr euch abgöttisch. Weinst du, tut sie alles, um dich wieder fröhlich zu machen. Meistens reicht ihre blosse Präsenz, um dir wieder ein Lachen ins Gesicht zu zaubern. Und wenn sie Mama-Zeit bekommt, dann hat sie nur eine Frage: „Wo ist der Babybruder, ich vermisse ihn!“
Und dann, ja dann gab es noch die Herausforderung, wieder arbeiten zu gehen. Und abzupumpen, damit du noch möglichst lange die Vorteile meiner Milch mitbekommst. Ach, wie ich das doch unterschätzt hatte. Ich war noch nie in meinem Leben so erschöpft, wie seit ich wieder in den Beruf zurückgekehrt bin. Und einige graue Haare habe ich dazu bekommen. Nein, es war keine einfach Zeit. Aber du und deine Schwester, ihr seid es mir wert.
Aus meinem zuckersüssen Neugeborenen ist ein zuckersüsses Kleinkind geworden – mit ganz viel Charme und Charakter. Mein kleiner süsser Junge, ich bin so stolz auf dich und freue mich auf all die vielen Abenteuer, die noch auf uns warten.
Ich liebe dich. Deine Mama.“